2.1 Einleitung

Für eine geschichtlich umfangreiche Darstellung dessen was sich an der Grenze zwischen Mittelalter und der Neuzeit, für die Gesellschaft und die Stellung der Individuen, verändert hat, ist hier nicht ausreichend Platz. Jedoch möchte ich wesentliche Veränderungen darstellen, auf denen sich ein neues Selbstverständnis des menschlichen Denkens begründete.

Um das Jahr 1500 kann man einen Wandel des Weltbildes, der ökonomischen Grundlagen, des politischen Gefüges, der gesellschaftlichen Entwicklung und des religiösen Lebens beobachten. Der jetzt entstehende Frühkapitalismus, bürgerliche Unternehmensinteressen, der Handel, das Bankwesen, das neue Selbstbewusstsein der Zünfte, neue soziale Mobilität, die Loslösung von Einzelkünstlern aus ihrem Zunftverband, der Aufstieg bürgerlicher Familien wie etwa der Medici, das Selbständigkeitsstreben des städtischen Bürgertums, die Rolle der Stadtrepubliken, sollen hier nur als Schlagworte dienen um einen groben Umriss der Umwertung der Werte in der italienischen Renaissance zu geben.[1]

Die abendländische Welt ist am Ende des Mittelalters nicht mehr mit der gleichen Ausschließlichkeit auf die Grundlage des Christentums ausgerichtet wie in den Jahrhunderten davor. Es beginnen sich Bewegungen der allgemeinen Säkularisierung zu entwickeln, die im Jahre 1517 dem Beginn der Reformation gipfeln.

„An die Stelle von Glaubensbereitschaft tritt Wissensdrang!“ [2]

Nikolaus Kopernikus postuliert das heliozentrische Weltbild, die Naturwissenschaften als sogenannte exakte Wissenschaften prägen das Denken. Astronomie, Geografie, Mathematik, Physik und Medizin, erfahren enorme Erkenntniszuwächse. Die Erkundung mechanischer Prinzipien ebnet den Weg zu technischen Erfindungen und neuer Güterproduktion.

An dieser Schwelle befindet sich die Stadt Florenz als die Epoche, die als die Wiedergeburt - die Renaissance - in die Geschichte eingehen wird, ihren Anfang nimmt. Gleichzeitig steht in diesem Bedeutungsumfeld eingebettet, die Wiege einer neuen Art des zeichnerischen Denkens.

2.2 Wiedergeburt der Antike – „la rinascita“

In diesem Biotop, an neuen Einflüssen und Veränderungen, wurde das oberste Ziel in der Kunst von Leon Battista Alberti formuliert: die Größe der antiken Meister wieder zu erreichen und sie nach Möglichkeit sogar zu übertreffen. Diesem Wunsch gleichgestellt und aufs Engste mit ihm verbunden steht das Studium der Natur.

Das „rechte Maß“ zu finden, gilt als Inbegriff der idealen Gestaltung. Es entsteht die Haltung, dass durch Maßverhältnisse, Geometrie und das Rechnen, die Schönheit zu fassen sei. Leonardo da Vinci fasst die Kunst als Wissenschaft auf. Eine besonders dichte Verbindung von Wissenschaft und Kunst drückt sich in der Entwicklung und allgemeinen Rezeption der „göttlichen Perspektive“, als perfekte Illusion eines tatsächlich vorhandenen Raumgebildes, aus.

„Eine zusammenfassende Auflistung dessen, was den Zeitgenossen als ästhetische Begriffe und als künstlerische Fähigkeiten wichtig erschien, gibt uns ein Zitat (1441) von Angiolo Galli, der folgendermaßen die Talente des Malers Pisanello schildert: „Kunst (arte), Maß (mesura; auch Proportion), Weite (aere; eigentlich Luft) und Zeichnung (desegno), Ausführung (manere; Manier, vielleicht auch als „Leichtigkeit im Vortrag“ zu fassen), Perspektive (prospectiva) und Naturwahrheit (naturale) hat ihm der Himmel als wundervolles Geschenk gegeben.“ [3]

In welchem Ausmaß diesem Wunsch nach ausgewogener Komposition, als Entsprechung des antiken Vorbilds, oder seiner Übertreffung, Rechnung getragen wurde, zeigt die Tatsache, dass Heinrich Wölfflin für die Kunst Leonardos (*1452 - ✝1519), Raffaels (*1483 - ✝1520) und Michelangelos (*1475 – ✝1564) den Begriff der „klassischen Kunst“ wählte.[4]

Bis 1500 wirkte sich der Begriff der großen Wiederbelebung auf nahezu alle Gebiete kultureller und wissenschaftlicher Tätigkeit aus. Panofsky weist darauf hin, dass bereits Bocaccio (*1313 – ✝1375) in Anwendung von Petrarcas (*1304 – ✝1374) Geschichtstheorie, die Vorstellung erneuerte, dass sich die Malerei im gleichen Schritt mit der Literatur entwickelt habe, und damit den Begriff der großen Wiederbelebung aus dem Bereich des gesprochenen und geschriebenen Wortes ausdehnte auf den der optischen Erfahrung. Der spätere Papst Pius II. (bürgerlich Enea Silvio Piccolomini) prägte fast ein Jahrhundert später den Satz: „Diese Künste (Redekunst und Malerei) lieben sich wechselseitig. (...) Es ist wunderbar zu sagen, solange die Redekunst blühte, blühte auch die Malerei, wie wir aus den Zeitaltern von Demosthenes und Cicero lernen. (...)“[5] Diesem Zusammenhang, nach Verwandtschaft zwischen Bild und Sprache, werde ich später noch weiter nachgehen. Der Verweis auf den bekanntesten römischen Rhetoriker gibt einen Hinweis auf die Stoßrichtung weiterer Untersuchungen.

Giorgio Vasari (*1511 – ✝1574) war derjenige, der zuerst die Verwandtschaft der drei schönen Künste als „Schwestern eines Vaters, der Zeichnung (disegno)“ behauptete, der sie zuerst in einem Werk behandelte. Architektur, Skulptur und Malerei, wurden davor ausschließlich in getrennten Abhandlungen betrachtet. Unser Untersuchungsgegenstand ist also das verbindende Element zwischen diesen Disziplinen, was ein weiteres Indiz für die Entbehrlichkeit einer getrennten Behandlung dieser Bereiche, darstellt.

Vom günstigen Zeitpunkt 1550 aus blickte er zurück auf den Fortgang der „Wiedergeburt der Kunst“ und verlieh dieser Zeit auch ihren Namen „rinascita“ – Renaissance. Ihre Vervollkommnung fand die Renaissance in Leonardo da Vinci, ihren letzten Höhepunkt jedoch, in allen drei Künsten den ersten Rang einnehmend, in Michelangelo Buonarotti.[6]

Diese beiden Hauptfiguren der Renaissance werden Hauptinformanten, in einer weiteren geschichtlichen Untersuchung über die Entwicklung der explorativen Zeichnung, sein.

2.3 Ein neues Werkzeug

„Zeichnen gibt die Möglichkeit, Ideen zu entfalten und zu überprüfen, es kann zugleich seinerseits die kreativen Fähigkeiten stimulieren und darf geradezu als eine anschauliche Form des Denkens bezeichnet werden.“ [7]

Als entscheidende Kraft zum Umbruch der Künste wird vor allem die des „disegno“ betrachtet. Der Begriff kann Zeichnung und Konzeption zugleich bedeuten. Auch davor wurden Zeichnungen im künstlerischen Arbeitsprozess eingesetzt jedoch dienten sie vielmehr der Übertragung und dem Festhalten einer tradierten Formensprache, etwa in der Verfertigung von Musterbüchern. Das Verdienst des „disegno“ aber ist es, dass hier erstmals eine neue Art der Zusammenführung von mehreren Zeichendarstellungen, in einem „Arbeitswerkzeug“ stattfindet. Zeichnen wird dabei zum Mittel die Welt zu verstehen: Sehen ist Erkennen. Es wird einerseits absolute Naturtreue angestrebt, andererseits einer Andeutung zur Interpretation Raum gegeben.

„Loslösung des Mediums aus seiner dienenden Rolle und Freisetzung zu einer autonomen Stellung, Betonung eines neuen, auf antiken Vorbildern basierenden Schönheitsideals (Proportion), verstärktes Naturstudium (Anatomie), Individualität der Darstellung (Porträt), Perspektive. Formal gibt eine freiere Gestaltungsweise mit skizzenhaft offenen Zügen einen Anhalt für die Wende. Weitere Kennzeichen kommen hinzu, so eine Vorliebe für fragmentarische Darstellung, eine Neigung zu größerer Lebendigkeit in der Wiedergabe und ein Streben nach optischer Richtigkeit. Technisch ist es die Benutzung neuer Zeichenmittel und vor allem eines vorher selten verwendeten Untergrundes: Papier.“ [8]

Die Erfindung der perspektivischen Darstellung und das Zulassen von fragmentarischen Elementen etabliert eine neue Art zu sehen - vereint auf einem Blatt. Durch die höhere Verfügbarkeit des Materials Papier, vervielfacht sich diese Art von Studien in jener Zeit und gewärtigt eine reflektierende Auseinandersetzung mit dem Gezeichneten. Der Begriff der „Studie“ weist auf diese Tätigkeit hin. Es ergeben sich Ansätze für spontane schöpferische Entscheidungen und Spielräume für das künstlerische Experiment, die davor so nicht bekannt waren und dem Medium eine neue Dimension seiner Bedeutung eröffnen. Das Skizzenbuch und das Studienblatt werden unabdingbar notwendige Instrumente mit deren Hilfe ein Formenkanon entwickelt wird. Die Zeichnung ist aber auch Kommunikationsmittel innerhalb der „botteghe”, den Künstlerwerkstätten. Es wird sich herausstellen, dass der dialogische Ursprung dieses Werkzeugs wesentlichen Anteil an der erfinderischen Kraft der explorativen Zeichnung hat. Wendet der Entwerfer dieses Instrument alleine an, findet der Dialog zwischen der explorativen Zeichnung und ihm selbst statt. Dadurch wird es in der Interaktion mit dem Zeichnenden, ein selbstreflexives Instrument das erkenntnisfähig ist .

2.4 „disegno“ – Kunst des Entwerfens

Schon um 1390 schreibt Cennino di Dera Cennini (*um 1370 – ✝ um 1440) in seinem „Traktat über die Malerei“: „Grundlage der Kunst und Anfang all dieser Hände Arbeit ist Zeichnen und Malen.“ Und er fährt fort: „Die Triumphpforte des Zeichens ist, das Studium der Natur.“ Um 1450 formuliert Lorenzo Ghiberti (*um 1378 – ✝1455) in seinen „comentarii“ den Gedanken vom Zeichnen als Grundlage der Malerei und folgt somit dem entscheidenden Theoretiker der Frührenaissance, Leon Battista Alberti (*1404 – ✝1472). Leonardo da Vinci stellt fest, das Zeichnen sei eine Wissenschaft und Michelangelo sagt: „Im Zeichnen, das man mit anderem Namen auch die Kunst des Entwerfens nennt, gipfeln Malerei, Skulptur und Architektur. Die Zeichnung ist Urquell und Seele aller Arten des Malens und Wurzel aller Wissenschaft.“

Die deutlichste Aussage zum „disegno“ trifft jedoch Giorgio Vasari:

 „Der Disegno ist das aktiv schöpferische Prinzip in den bildenden Künsten [...]. Dieses Prinzip entspringt aus dem Geist und holt aus vielen Dingen ein allgemein geistiges Element heraus. Es entspricht gleichsam der Urgestalt oder dem Urbild jedweder Naturerscheinung. [...] Die Urgestalt oder Idee nun macht das Verhältnis, in dem Eindruck dessen bildet sich im Künstlergeist eine gewisse Vorstellung, oder die Widerspiegelung der Idee in einem schöpferischen Geiste, und (durch diesen vermittelt) im Werkstoff.“ [9]

Um diese Zeilen richtig verstehen zu können, bedarf es noch einer weiteren Untersuchung dieses neuen „Renaissance-Individualismus“.  Vom Arzt und Philosophen, Marsilio Ficino (*1433 - ✝1499), Begründer der „Platonischen Akademie von Florenz“, stammt der Ausspruch, dass der Mensch „Deus in terris“ ist – ein Gott auf Erden (Er wurde1472 zum Priester geweiht! Eine derartige Aussage wäre wohl davor und auch danach nicht leicht denkbar gewesen.).[10] In seiner Umgebung werden leidenschaftlich Platon und Plotin interpretiert. Der Mensch ist mit seiner Fähigkeit ›Ideen‹ (kosmische Urhyroglyphen) zu erkennen das einzige Subjekt in der Schöpfung, das die ›Zeichen‹ des Absoluten begreifen kann. Das Subjekt, in welchem sich das Absolute im platonischen Sinne spiegelt, empfindet sich vor allem mit seiner produktiven Phantasie als allmächtig. Die Unsicherheit gegenüber der Natur bleibt bestehen. Ein Postulat des freien Menschen der den „mythischen Menschen“ überwunden hat und mit freiem Bewusstsein Wahrheit finden kann, aber einer „magisch“ zwar zu erklärenden, rational jedoch nicht zu verstehenden Natur gegenübersteht.

Die Grenze zwischen Fiktivem und Wirklichem ist aufgehoben und die (erkenntnisfähige) Seele, welche in der Kunst eine Rivalin Gottes ist, versucht die „subjektive“ Welt des „metaphysisch Absoluten“, gegen die „objektive“ Welt der Natur, zur Geltung zu bringen.[11]

Es ist notwendig einen Einblick in die hierarchische Struktur des Neuplatonismus zu nehmen, damit diese Zusammenhänge besser verstanden werden können.

Oberste Instanz ist „das unaussprechliche Eine“ (also Gott), unzerstörbar, fest und einfach.

Unter ihm , der Geist (mens), unzerstörbar und fest, aber vielfach, und er enthält die Ideen, welche die Urbilder alles dessen sind, was in tieferen Regionen existiert.

Die Seele (anima) als nächste Stufe ist noch unzerstörbar, aber nicht mehr fest. Von selbstbewirkter Bewegung getrieben, ist sie ein Ort reiner Ursachen eher als reiner Formen und, anthropologisch gesprochen, zwiespältig. Die menschliche Seele umfasst zwei Teile: die „erste“ oder „höhere“ Seele, nämlich die Vernunft, und die „zweite“ oder „niedere“ Seele, nämlich die innere und äußere Wahrnehmung (Einbildungskraft und die fünf Sinne) ebenso wie die Vermögen der Zeugung, Ernährung und des Wachstums (Deshalb teilt der Mensch den Geist mit dem göttlichen Geist und seine „niedere Seele“ mit den Tieren, seine „höhere Seele“ oder die Vernunft teilt er jedoch mit nichts im Kosmos).

Während sein Geist das Prinzip reinen unbewussten Denkens ist, der absolute Einsichten ermöglicht, fähig zur Kontemplation, aber unfähig zum Handeln ist, ist seine Vernunft [das, was man das „Prinzip der Aktuosität“ nannte] unfähig zu absoluten Einsichten, aber in der Lage, „nicht allein den Akten des reinen Denkens, sondern auch den empirischen Lebensfunktionen das Moment der Bewusstheit“ mitzuteilen.[12]

Für eine Darstellung der genauen Unterscheidung, zwischen dem mittelalterlichen und neuplatonischen Denken, ist hier nicht genügend Platz. Wir wollen uns mit der Einsicht begnügen, dass damit alle vom mittelalterlichen Denken gezogenen Grenzen aufgehoben wurden.

Ficino erhält die christliche Terminologie und ihre oberste Instanz, aber er spricht der menschlichen Seele, Erkenntnisfähigkeit zu. Der Geist ist das Prinzip „reinen unbewussten Denkens“, er ermöglicht absolute Einsichten, ist aber unfähig zum Handeln. Wir erinnern uns, der Geist ist Gefäß für Ideen und Urbilder. Er ist also das, was wir an anderer Stelle auch Erfahrungswissen (Produkt geistiger Schlüsse, die auf inneren oder äußeren Wahrnehmungen basieren) nennen, denn aus ihnen bilden sich Vorstellungen (siehe oben, Vasari).

Die Seele wird als zweiteilig dargestellt, ein Teil Vernunft, ein Teil innere und äußere Wahrnehmung. Die Vernunft ist unfähig zu absoluten Einsichten, kann aber dem reinen Denken und den empirischen Lebensfunktionen das Moment der Bewusstheit mitteilen.

Im Jahr 1474 veröffentlichte Ficino seine ›Theologia Platonica‹, die Bibel der florentinischen Neuplatonik.

Die Ideen werden darin als ‹erste Bilder› und zugleich als ‹bewegende Kräfte› bezeichnet; nur die menschliche Seele erkennt sie, also wird sie zum Mittelpunkt der Welt. In der Natur jedoch kann sie das in ihr stets Verborgene nicht so leicht erkennen wie in der mythischen, inneren Schau der Ideen. Die ‹Natur› ist eine unergründliche Schatzkammer von ‹Hieroglyphen›. [...] Ficino fragt: Was ist das letzte Rätsel? Die Kraft der Verwandlung eines Dinges in ein anderes. Änlich hatte Aristoteles das Wesen der Metapher definiert. Die ‹Hieroglyphe› ist ein ‹Zeichen› - für etwas anderes – wie die Metapher.[13]

Panofsky weist darauf hin, dass die Platonische Idee im 16. Jahrhundert säkularisiert wird, sie wird also zur menschlichen Potenz. Denn ein Kunstwerk ist das Ergebnis einer Idee des Künstlers, nicht eine Kopie der Natur. Ideen sind Vorstellungen oder Anschauungen, die im Geiste des Menschen selbst ihren Sitz haben. Platon teilte die Künstler in zwei Kategorien ein: Die einen sind Vertreter der ›mimetiké techné‹, sie stellen nur die sinnliche Erscheinung der Körperwelt dar, die anderen bringen in ihren Werken auch die Idee zur Geltung. Es sind dies die ›heuretischen[14] oder ›poietischen[15] Künstler. Plotin, der für die Neuplatoniker wichtiger als Platon war, trat vor allem für die heuretische oder poietische Auffassung der Kunst, ein.  Die Kunst bleibt allerdings der spekulativen geistigen Anschauung untergeordnet.[16] Das bedeutet dass der idealisierte Künstler, im Machen (poiein) findet (heureskein).

Als Ficino starb hatte der von ihm verbreitete Geist ganz Europa erobert. Er blieb über viele Jahrhunderte bestimmend und wechselte lediglich den Inhalt nach Zeit und Ort.[17]

Welchen Stellenwert die Zeichnung schon zeitgenössisch hatte, beweist die 1563 von Cosimo de Medici in Florenz gegründete „Accademia del Designo“. In dieser Akademie wurde das Zeichnen erstmals zu einer intellektuellen Disziplin erhoben. Ihr „spiritus rector“ war Giorgio Vasari.

Der Kunsttheoretiker und Maler Federico Zuccari (*1542 - ✝1609) verfasste sein Traktat ‹L´Idea de´Pittori, Scultori ed Architetti›, 1607. Er bemerkte:

„So wie die Sonne alle Dinge der Natur beleuchte, bewege und belebe, auf dass sie Neues hervorbringen, so wirke auch in uns der „disegno“ als formbildender Erreger aller Erkenntnisse und Handlungen.“ [18]

Seine Theorie geht vom frühen Neuplatonismus aus, aber er erweitert, durch eigene und fremde Aristoteles-Forschungen angeregt, den Idea-Begriff zur Concetto-Formel. Er verfasste damit die Erste concettistische Kunsttheorie (nur) für die bildende Kunst. Die Idee in der Ästhetik des Neuplatonismus von Ficino wird im Traktat Zuccaris zu einem ›Concetto‹ (Bildbegriff oder Begriffsbild). Ein Concetto ist also nicht abstrakt! Nach Zuccari, handelt es sich dabei um eine präexistente bildliche Vorstellung, um einen ›Disegno Interno‹ - eine innere Zeichnung.

Zunächst entsteht ‹in unserem Geiste ein Concetto›, sagt Zuccari, eine ‹ideeliche Vorstellung›, ein ‹Disegno Interno›, dann gelangen wir zur Verwirklichung, zum ‹Disegno Esterno›. Der ‹Disegno Interno› wird mit einem Spiegel verglichen, der ‹Vorstellung und Gegenstand des Sehens› sei: Platons Ideen sind ein  ‹Disegno Divino Interno›, während Gott ‹Spiegel seiner selbst› ist. Gott schafft ‹natürliche›, der Künstler ‹artifizielle› Dinge. Die menschliche Phantasie bildet – wie im Traum und wie Gott - ‹neue Arten und neue Dinge›. Das geistige In-Bild des Künstlers hat also demiurgische Kraft. Die bloße Nachahmung der Natur erscheint als eine Kopie der Kopie. Während die ‹Innere Zeichnung› das göttliche Abbild aller Dinge, die ‹expressive Form unserer Seele› ist, wäre die ‹äußere Zeichnung› zunächst nur das, was erscheint, [...] also das was ‹gegenstandlos› ist, d.h. nur Umriß, Linie, Figuration ‹einer vorgestellten und wirklichen Sache›.[19]

Wie bei Leonardo und vielen späteren Künstlern (und explorativen Zeichnern) wird bei Zuccari die Linie sichtbare Substanz der inneren Zeichnung, die in jeglicher ›maniera‹ (Art und Weise, Manier) ausgedrückt, also verwirklicht wird.[20]

Zuccari unterscheidet drei Formen von „Disegno Esterno“, also von verwirklichtem Concetto:

1. „Disegno Naturale“, d.h. die Kunst ahmt die Natur nach. 2. „Disegno Artificiale“: Der Geist macht aus der Natur ein eigenes künstliches Bild. 3. „Disegno Fantastico-artificiale“: Ursprung aller „Seltsamkeiten“, überraschenden Wendungen, d.h. „Capricci“ (von „Sprüngen“ des Bocks), „Erfindungen“, „Phantasien“ und „Ungewöhnlichkeiten“ (ghiribizzi).[21]

Zuccari weist darauf hin, dass die Naturnachahmung wichtig ist, sie bildet die Voraussetzung der bella pittura (durch Anreicherung des inneren, geistigen, Formenvorrats). Die Kunst hat nicht nur ihren geistigen Ursprung im Concetto, sie bewegt sich auch in der Welt der bereits bestehenden Kunstwerke.

Die höchsten Weihen aber erfährt Jener, der den ‹Disegno esterno prodottivo, discorsivo, fantastico› beherrscht. In dieser Stufe kann sich die ungehemmte Phantasie ausleben und es herrscht die eigentliche erfinderische Kraft der Kunst.

Sie ist von ‹größter Hilfe› für ‹universales› künstlerisches Schaffen, für die Herstellung von ‹Theaterbühnen, Fontänen, Loggien, Gärten, Sälen, Tempeln, Palästen, Fest-Apparaturen, Maschinen, Grotesken, Sphären, mathematischen Figuren, Uhren, Chimären›.[22]

Damit wir die Kunst insgesamt zu einem ‹Disegno metaforico›, zu einem metaphorischen Abenteuer, der Möglichkeit, alles mit allem zum Ausdruck zu bringen.

Einen weiter zu verfolgenden Strang möchte ich hier kurz zusammenfassen: Die Zeichnung ist ein dialogisches Instrument. Sie dient der Kommunikation innerhalb der Werkstatt, was wahrscheinlich auch zum Teil ihre Wurzeln bildet. Sie ist aber darüber hinaus auch geeignet einen inneren Dialog zu führen. Es wird mit Zeichen interagiert, die in ihrer Zeichenhaftigkeit für etwas Anders stehen -  wie die Metapher. Die Metapher ist eine rhetorische Figur. Es wird also später interessieren, wie im Prozess des explorativen Zeichnens mit Zeichen interagiert wird und ob die Rhetorik uns Antworten auf Entscheidungsgrundlagen innerhalb dieses Prozesses geben kann. Ist Zuccaris ›Concetto Interno‹ als Bildbegriff so etwas wie eine interne Repräsentation die, wenn sie präexistent ist, aus „Erfahrungsbildern“ besteht und ist der, hier formulierte, Bild-Begriff verantwortlich für die Fähigkeit des Zeichners, rhetorisch zu agieren?

2.5 Aufgaben der Zeichnung in der Renaissance

Die künstlerische Produktion im Florenz des 16. Jahrhunderts prägt das Bild des öffentlichen Raumes der Paläste und der Kirchen, ja die gesamte Vorstellung vom öffentlichen und privaten Leben. Es wird im Auftrag von Kommunen, Herrschern, Zünften, oder Einzelpersonen gearbeitet. Beispielsweise wurde der „David“ (1501-1504), als Leitbild für das neue republikanische Selbstverständnis der Stadt Florenz, in Auftrag gegeben.

Das gesteigerte Repräsentationsbedürfnis verschiedenster Auftraggebergruppen, verlangte einerseits nach höherer Produktivität in den „botteghe“, andererseits forderte es neue Arbeitsweisen. Es etablierten sich große Künstlerwerkstätten (botteghe), die als Unternehmen des Kunstbetriebes geführt wurden. Innerhalb dieser Betriebe wurde die Zeichnung Leit- und Entwicklungsinstrument für die neuen Anforderungen.

Architektur, Bildhauerei, Malerei, Möbel, Waffen, Goldschmiede- und Textilarbeiten, Festdekorationen und technische Entwicklungen, für all diese Bereiche spielte die explorative Zeichnung eine entscheidende Rolle.

Die Stellung des florentinischen Künstlers in der Renaissance ist geprägt von der humanistischen Einstellung des Kreises um Lorenzo de Medici, dem Männer aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten angehören. Grundlage ihrer Stellung sind Talent und persönliche Leistung. Deshalb wundert es nicht, dass das entscheidende Ziel die Vervollkommnung der eigenen Anlagen ist. Der angestrebte „uomo universale“, wird von keinem anderen Künstler so exemplarisch verkörpert, wie von Leonardo da Vinci.[23]

2.6 Lernen von Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci ist selbstverständlich nicht der Einzige, der diese Art des zeichnerischen Entwickelns genutzt hat. Doch ist von ihm die größte Menge an zeichnerischem Material erhalten und publiziert, anhand dessen das breite Arbeitsspektrum eines damaligen Künstlers ablesbar ist.

Über die Art, wie Leonardo die Zeichnung einsetzte, gibt Augusto Marinoni in seiner ausführlichen Beschreibung der erhaltenen Codizes Auskunft. Er mutmaßt, dass manche Manuskripte von Leonardo ausgearbeitet wurden, um die ursprüngliche Absicht der Veröffentlichung zu ermöglichen. Doch später wurden andere Bemerkungen und Zeichnungen hinzugefügt. So beschäftigen sich, von den sechsunddreißig Seiten des Codex über den Vogelflug, nur achtundzwanzig tatsächlich mit dem Thema!

Das legt die Vermutung nahe, dass es sich hier (trotz unterschiedlicher Themengebiete) um (Selbst) Reflexionen - vice versa -  zwischen dem Gezeichneten und dem Geschriebenen handelt. Wann die Zusammenführung von Schrift und Zeichnung stattgefunden hat ist aus heutiger Sicht nicht auszumachen, doch hat die Reflexion im Austausch dieser beiden Medien nachweislich stattgefunden.

„In die zweite Gruppe [seiner Aufzeichnungen] könnten wir das „Vermischte“ einordnen, die Büchlein mit flüchtigen Anmerkungen, deren Seiten zu verschiedenen Zeiten mit den verschiedensten Notizen versehen werden [sic.], sei es mit Feder, sei es mit Bleistift, wo auch immer noch Platz zwischen den vorausgegangenen Notizen ist. Zu dieser Art von Manuskripten, die wir ebenso gut „Kladden“ oder „Schmierhefte“ nennen können, kommen auch die Seiten, die Leonardo wortwörtlich oder in Zusammenfassung aus Büchern anderer abgeschrieben hat, um zu lernen und sich weiterzubilden.“ [24]

Aufzeichnungen die, ähnlich der Verwendung von heutigen Notizbüchern, interessantes festhalten. Neurobiologie und Entwurfsforschung können heute darüber Beweis führen, dass gerade diese „Undiszipliniertheit“, dieses Chaos zur Bildung von neuen Zusammenhängen beiträgt.

„Leonardo benutzte – wohl aus Sparsamkeitsgründen – jedes Stück Papier, das ihm in die Hände geriet, Registerseiten, Briefe, Schriften anderer, wenn Sie nur eine freie Seite hatten.“ [25]

Es wird sich später herausstellen, dass explorative Zeichnungen häufig auf Fundstücken, Kuverts, Rechnungen, Servietten, usw. verfertigt werden.

Die Sparsamkeit und das Verwerfen von Projekten mögen Teilaspekte sein, mit denen sich das unterschiedliche Aussehen mancher Blätter erklären lässt. Der  Hauptgrund des Erfolgs ist aber in der Methode zu suchen, die Leonardo anwendet.

Ernst Gombrich schreibt dazu:

„Wenn wir Berenson’s Sammlung florentinischer Zeichnungen betrachten entdecken wir, dass Leonardo da Vinci zeichnet als würde er wie ein Bildhauer in Ton arbeiten. Er akzeptierte keine Form als abgeschlossen, sondern zeichnete immer weiter bis die ursprüngliche Absicht fast verloren gegangen war.“ [26]

Und weiter führt er aus, dass es vor ihm keine Parallelen zu dieser Art zu Arbeiten gegeben hat.[27] Es ist jedoch wesentlich festzuhalten, dass es sich hier um eine Art von Überzeichnung handelt. Noch interessanter erscheint, dass Leonardo sich bewusst darüber war, denn er empfiehlt:

„Artikuliere nicht die individuellen Teile, sondern beobachte die Vorgangsweise des Poeten, der sich keine Mühe gibt, schöne Buchstaben aufs Papier zu bringen, sondern zum Zweck einer Verbesserung auch Zeilen durchstreicht. Ebenso sollte ein Maler das Arrangement von Gliedmassen provisorisch ausarbeiten und sich nicht bemühen, Schönheit und Perfektion der verschiedenen Teile zu erreichen. Weiteres  schreibt  er, im klaren Gegensatz zu Alberti, der das zu Papier bringen einer fertigen Vorstellung hervorhebt, sollte man zuerst dem Auge eine Ahnung von der Intension und der Erfindung geben, und dann mit dem Wegnehmen und Zerlegen beginnen, bis man zufrieden ist.“ [28]

Leonardo beschreibt hier das Schaffen einer Zeichnung, die nicht konkret ist. Sie ermöglicht anschließendes interpretieren. Teilbereiche (auch wenn hier die Rede von Figurenstudien ist) können in später folgenden Zerlegungen ausgearbeitet (studiert) werden.

Es dürfte unter Zeitgenossen von Leonardo genau die gegenteilige Position vertreten worden sein, wie aus Schriften von Alberti, aber auch anderen bekannten Größen dieser Zeit hervorgeht. Die Arbeitsweise der vorangegangenen Generationen war in einem hohen Maß von Traditionen und Mustern geprägt, ja es wurde regelrecht nach Musterbüchern gearbeitet. Gombrich weist auch darauf hin, dass sogenannte „pentimenti“, Korrekturen scheinbar sehr selten, wenn überhaupt zum Einsatz gekommen sind. Wenn Künstler Zweifel bezüglich ihrer Komposition hatten, war es üblich eine komplett neue Alternative zu zeichnen.[29]

In Leonardos Arbeiten hingegen kann man beobachten, dass er sich häufig nur auf einen Teilbereich konzentrierte und diesen in verschiedensten Darstellungen, Drehungen, usw. sozusagen „umkreiste“, als ob er ihn gut genug kennen musste um ihn dann richtig in Position zu bringen. Hingegen sind die Elemente, die sein Interesse nicht so fesselten, nur schemenhaft angedeutet.

Das ist genau die Art, wie im explorativen Zeichnen verfahren wird, jene Art zu arbeiten, die heute – beinahe 500 Jahre später - immer noch eingesetzt wird.

Leonardo empfiehlt in seinen Schriften eine komplett neue Arbeitsweise. Für ihn ist die erfinderische Kapazität der Zeichnung wichtig, nicht die perfekte Anwendung. Auch das Aussehen der Zeichnung ist nicht wesentlich für ihn, er entfernt sich damit von der vorgegebenen Arbeitsmethodik der Künstler-Handwerker. In diesem Arbeitsabschnitt wird die Zeichnung durch ihre Anwendung etwas Anderes, ein Hilfsmittel, ein Werkzeug, das einen ganz neuen Charakter annimmt, es dient der „Inventione“, dem finden von Neuem.

Das erfordert eine Arbeitsunterlage die immer zur Hand ist auf der man, sobald sich eine Vorstellung bildet, eine Aufzeichnung machen kann. Leonardo schreibt dazu:

„Zeichne einen Gegenstand schnell und halte dich nicht mit Details auf: halte die Position fest, damit du es später ausarbeiten kannst.“ [30]

Doch nicht genug mit dem Vergleich zwischen dem Poeten und dem Maler, für Leonardo war die Skizze nicht nur ein Mittel zur Entwicklung, sie war auch Hilfe für weitere Inspirationen. Er forderte, buchstäblich einen neue Art des Sehens, ein.

„Ich enthalte mich nicht, unter meinen Anweisungen eine neue Form des Sehens zu beschreiben, die – obschon sie unwichtig, ja fast lächerlich scheinen mag – trotzdem von großer Nützlichkeit ist, indem sie den Geist zu verschiedensten Erfindungen anregen kann. Wenn du nämlich gewisse mit Flecken übersäte Mauern oder marmorierte Steine betrachtest [...], so wirst du dort Abbilder von Landschaften mit Bergen, aber auch Flüsse, Felsen, Bäume, große Ebenen, verschiedene Täler und Hügel wahrnehmen; oder du wirst eine Vielfalt von Schlachten und lebhafte Stellungen von merkwürdigen Figuren, Gesichtsausdrücke, Gewänder, und unendlich viele Dinge sehen, die du vervollständigen und in gute Form bringen magst; [...] denn in der Wahrnehmung verworrener Dinge findet der Geist Anregung zu neuen Erfindungen. Doch sei auch sicher, dass du zuvor die Darstellung der Teile dieser Dinge, die du festhalten möchtest, gründlich beherrschst.“(sic.) [31]

Seinen Aufzeichnungen kann entnommen werden wie er dieses Medium verwendete um in einem wachtraumartigen Zustand in unregelmäßigen, unstrukturierten Formen, „etwas zu sehen“ (siehe auch Kapitel 7.4). Dieser tranceartige Zustand ermöglichte es ihm seine inneren Bilder auf externe Objekte zu projizieren. [32]

Er nützt das Unbestimmte und seine den Geist anregende Vieldeutigkeit für seine Arbeit. Nun kommen wir zum Kern: Das Unbestimmte stimuliert die Vorstellungswelt zu neuen Erfindungen. Die Skizze ist nicht länger eine Vorzeichnung für die künstlerische Arbeit, sondern sie ist Teil des Prozesses selbst, der in den Gedanken des Künstlers vorgeht. Statt den Einfall am Papier festzuhalten hält die Skizze den Strom der Vorstellungen in Bewegung. [33]

Das Geschäft eines Renaissancekünstlers war von einem profunden Wissen über darstellerische Konventionen, denen Arbeiten für die Kirche, Kommunen und private Auftraggeber unterlagen, geprägt.

Gombrich schreibt dazu:

„What is remarkable in these instances is the way in which certain motifs which have a clear symbolic significance in the finished version grow out of entirely different forms [...] In searching for a new solution Leonardo projected the new meaning into the forms he saw in his old discarded sketches.“ [34]

Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Konventionen sich in Bezügen und Abhängigkeiten zueinander im Gedächtnis verankerten. Sie unterlagen also einer symbolischen Signifikanz, die durch ihre Bedeutung Bezüge und Regeln bildeten. Das regt den Verstand zur Analogiebildung und metaphorischen Bezügen an.

Diese Tatsache stellt eine weitere Verbindung zum Untersuchungsgegenstand dar, sowohl konstruktive, als auch formale und erzählerische Konventionen beeinflussen das explorative Zeichnen.

Leonardo verwendet beispielhaft Schnittbilder und Schichtzerlegungen, fügt Detailansichten hinzu, hält Funktionszusammenhänge fest, arbeitet mit Darstellungen aus verschiedenen Blickwinkeln und umkreist, oder wendet förmlich den Untersuchungsgegenstand. Doch ist in seinen Arbeiten auch die Umformung des scheinbar Zufälligen, des Gegebenen, in einen neuen Zusammenhang gesetzten, zu erkennen.

Anhand von Leonardos Wasserstudien lässt sich beweisen, dass es keine Trennung zwischen technischer Zeichnung und künstlerischem Entwurf gibt. Hier ist beispielhaft zu erkennen, dass der Prozess des explorativen Zeichnens selbst, die Hervorbringung, die „inventione“, in der Macht des Experimentalsystems selbst liegt, das aus verschiedenartigen Dingen, Medien der Inskription und Codes besteht.[35]

Wasser, wie generell sich bewegende Medien, haben den Ingenieur-Künstler sein Leben lang beschäftigt. Und das Wasser selbst ist für ihn:

„(...) ein Körper, der fortwährend seine Gestalt wechselt“ [36]

Die sich entwickelnden Formen des Wassers und die Erkenntnis von Ähnlichkeit zu Haaren, angeleitet durch den dem Zeichnen innewohnenden Prozess, ist hier in einzigartiger Weise zusammengeführt. Auf unnachahmliche Art und Weise wird hier dargestellt wozu die Zeichnung den Zeichner befähigt.

Allerdings bleibt die Frage offen, welchen beteiligten Elementen nun die Erfindung zugeschrieben werden kann. Dem Auge, der Hand, dem Wasser, der Feder, der Tinte, oder dem Papier?

„Die Antwort ist: keinem von allen diesen, die indes allesamt an diesem Entwurfsprozess beteiligt sind. Die Erfindung entsteht vielmehr aus den Übertragungsvorgängen, die Übertragung der im Wasser gesehenen Form in das Medium der Zeichnung und die Entbergung einer spezifischen Stofflichkeit, einer spezifischen Materialität aus diesem „lineamento“.“ [37]

Anhand dieses Beispiels und Vorangegangenem kann zusammengefasst werden welche Bedingungen den Erfolg dieser Technik ausmachen:

Leonardos reine Aufzeichnungen (Notizbücher) sind in, selbstreflexive Notizen mit grafischen Elementen und Notate mit Skizzen, die der Weiterbildung dienen, einzuteilen.

In seinen Skizzen kommen Abwandlungen von Zeichnungsinhalten und Variationen von Überzeichnungen vor.

Schnelligkeit prägt seine Arbeit.

Um Aufmerksamkeitsphasen zu nutzen, verwendet er jedes verfügbare Material.

Er ist bereit Teilergebnisse als Untersuchungsgegenstand zuzulassen.

Er lässt das Mischen unterschiedlicher Inhalte zu.

Er akzeptiert keine Form als abgeschlossen.

Er bindet scheinbar zufälliges in den Zusammenhang ein.

Erst wenn eine ausreichende Dichte (Komplexität) vorhanden ist arbeitet er, in reduzierenden Schritten, Teilbereiche aus.

Einzelschritte oder Variationen aus den identifizierten Teilbereichen regen das Gedächtnis zur Analogie- und Metaphernbildung an.  Das führt zu symbolischen Umformungen.

2.7 Michelangelo

Die Künstlerfigur Michelangelo soll hier nicht in Opposition zu Leonardo da Vinci gestellt werden. Es ist aber eine Tatsache, dass er im Gegensatz zu Leonardo, deutlich mehr umgesetzte Projekte hinterlassen hat und zwar in der Malerei, der Bildhauerei und der Architektur. Es ist anzunehmen, dass die beiden Künstler das Werk des jeweils Anderen kannten und auch studierten.[38] Die angeblich schlechte Beziehung, aufgrund ihrer künstlerischen Rivalität zueinander, tut hierbei nichts zur Sache.

Summers bemerkt dazu: „Michelangelo studierte Leonardos Erfindung (seine Art zu zeichnen) eingehend und hat vieles weiterentwickelt. Er stimmt Panofsky und Gombrich zu, dass seine Methode auf der Identifikation zwischen Zeichnen und Poesie basiert, die einen Austausch zwischen grafischen Repräsentationen [und ihren Bedeutungen]ermöglicht.“[39]

In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass beide Künstler ein umfangreiches schriftliches Werk hinterlassen haben. Sie waren es gewohnt allegorische Inhalte in Formen zu fassen, was ein derartiges Denken gefördert und perfektioniert haben kann. Von Michelangelo ist überliefert dass, er nicht nur ein großer Verehrer von Dante Alighieri  war, sondern zahlreiche Sonette aus seiner eigenen Feder stammen.

Von besonderem Interesse für unseren Untersuchungsgegenstand sind Michelangelos Architekturzeichnungen. Von Bernini[40] ist überliefert:

„Michelangelo war groß als Bildhauer und Maler, aber göttlich als Architekt, denn Architektur beruht auf Zeichnung (dessin, disegno) allein.“ WO???

Bernini drückt damit aus, dass der Architekt seine Werke nicht selbst baut, sondern zeichnend entwirft. Der Architekturentwurf ist reine Erfindung, das bedeutet, er ahmt nicht die Natur nach, wie die Zeichnung des Malers, oder Bildhauers. Damit steht der Architekt Michelangelo für zeitgenössische Theoretiker an der Spitze der Künste. Er wendet laut Zuccaris Zuordnung die höchste Form des „Disegno Esterno“, den  ‹Disegno esterno prodottivo, discorsivo, fantastico›, an. Denn der Architekt beschäftigt sich hauptsächlich mit Form-Erfindungen.[41]

Von Michelangelos Hand sind, mit Ausnahme seines architektonischen Erstprojektes, der Fassade von S. Lorenzo, keine Projektzeichnungen (oder Präsentationszeichnungen) erhalten. Die überwiegende Zahl – und das ist für ihn charakteristisch – besteht aus „Arbeitsblättern“. An ihnen können Erfindungsgabe, Vorstellungsvermögen und Sicherheit des geübten explorativen Zeichners abgelesen werden. Vielleicht hing dies auch mit seiner Abneigung gegen jede vorschnelle Fixierung von Ideen zusammen. Was unter Umständen mit seinen Erfahrungen aus dem malerischen und vor allem bildhauerischen Arbeitsfeld zu tun hat..

Michelangelo ist als Zeichner und Bildhauer ein Meister des „Non finito“[42]. Da das menschliche Gehirn fehlende Teile ergänzt, um die wahrscheinlichste Bedeutung eines visuellen Bildes zu eruieren, ist diese fragmentarische Arbeitsweise ein Mittel zur Ideengenerierung. In der modernen Neurologie ist dieTatsache des perzeptuellenErgänzens(Filling-in) einer der Begriffe, welcher für diese Leistung des Gehirns steht. Michelangelo folgt Leonardo in der Technik des Überzeichnens nicht, er bevorzugt aufeinanderfolgende Variationen von Neuzeichnungen.

Anhand seiner am umfangreichsten dokumentierten architektonischen Arbeiten, zur „Biblioitheka Laurenziana“ und Zeichnungen zur Medici-Kapelle, lässt sich diese Arbeitsweise nachvollziehen. Er zeichnet nicht, um „es sich vor Augen zu führen“, sondern „es ist im Entstehen“ und die Zeichnung dient dazu den Entstehungsprozess in Gang zu bringen – und in Gang zu halten. Er konzentriert sich auf eine Struktur oder ein Detail, an dem er arbeitet, wie an einem Marmorblock und lässt Änderungen zu. Sobald ein Problem gelöst ist, bricht er die Darstellung ab. Schraffuren oder Lavierungen dienen lediglich der Klärung plastischer Fragen.

In seinen Architekturzeichnungen hat Michelangelo Leonardos Methode für sich adaptiert. Anhand einer Entwurfszeichnung für das Doppelgrab der Medici-Kapelle, erklärt Summers den transfomatorischen Prozess wie folgt:

Die Zeichnung beginnt als zarte Andeutung eines Doppelgrabes, die spiegelverkehrte liegende Figur darüber ist als verbleibendes Element der ersten Idee zu deuten. Das Blatt wurde gedreht und die symmetrischen Elemente des Doppelgrabes intendierten eine Dominanz des Schemas auf der rechten Seite. In der Vorzeichnung ist zu erkennen, dass die beiden Gräber von Anfang an asymmetrisch geplant waren. Solche Nicht-Wiederholungen scheinen ein Antrieb für die weitere Entwicklung zu sein.[43]

Die vorangegangene Passage erhellt die Entwicklung basierend auf Spiegelungen, Drehungen, Kombinationen und Transformationen. Sie sind für Michelangelo unterstützende Momente im architektonischen Entwerfen. Diese Art der „Entfaltung“, ist im Tun selbst begründet und dem „Poetischen“ inhärent. Die beschreibende Komponente der explorativen Zeichnung wird dabei erzählend, narrativ eingesetzt. Form und Sinn werden durch diese poetische Herangehensweise erst entwickelt, sie entstehen förmlich erst dabei.

Michelangelo entwickelte eine Methode des Architekturentwurfes, die bis heute verwendet wird. Für Michelangelo, Leonardo und andere Künstler ihrer Zeit, war diese Art des transformatorischen Zeichnens ein wesentliches Werkzeug. Der Einfluss des poetischen Gedankens im Erkennen des Ganzen führt einerseits zum Neuplatonismus und andererseits zu Fragen der Rhetorik.

2.8 Fazit

Veränderte Anforderungen an die Künstlerwerkstätten und höhere Verfügbarkeit des Materials Papier, etablierten die Zeichnung als neues Werkzeug im künstlerischen Arbeitsprozess.

Die Rückkehr zu den Werten der Antike und deren Weiterentwicklung in der Renaissance prägten eine neue Denkweise, sowohl in künstlerisch-gestalterischen, als auch in poetisch-literearischen Bereichen. Aufbauend auf antiken Vorbildern begannen sich Literatur und bildende Kunst gegenseitig zu beeinflussen. Vasari führt erstmals Architektur, Bildhauerei und Malerei in einem Werk zusammen und erkennt, dass sie alle auf der Zeichnung fußen.

Die Erfindung der perspektivischen Darstellung und das Zulassen von Fragmentarischem etabliert eine neue Art zu sehen, vereint auf einem Blatt. Studienblatt und Skizzenbuch wurden unabdingbar notwendige Instrumente mit deren Hilfe ein Formenkanon entwickelt wurde. Die Zeichnung wird als selbstreflexives Instrument, das auch erkenntnisfähig ist, gewürdigt und 1563 die „Accademia del Disegno“ gegründet.

Die, durch Marsilio Ficinos Neuplatonismus, säkularisierte Idee wird zur menschlichen Potenz. Der Mensch ist das einzige Subjekt in der Schöpfung, der die Zeichen des (metaphysisch) Absoluten erkennen kann. Damit hebt er die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion auf. Er postuliert die Kraft der Verwandlung eines Dinges in ein anderes als das letzte Rätsel – die Metapher.

Bei Federico Zuccari wird der Idee-Begriff zur Concetto-Formel. Was bedeutet, dass das Concetto (als „Disegno Interno“) eine präexistente bildliche Vorstellung ist, eine innere Zeichnung, eine bildliche Idee. Sie ist Produkt von Wahrnehmung und Vorstellung - ein Produkt der Phantasie. Diese kann in verschiedenster Weise verwirklicht werden und wird in verschiedene Grade von „Disegno Esterno“ eingeteilt. In der Idealform, dem „Disegno esterno prodottivo discorsivo, fantastico“, dem ungehemmten sprühenden Geist der Phantasie, gipfelt diese höchste Steigerungsform und wird selbst zum „Disegno metaforico“.

Die Untersuchung von Leonardo da Vincis Arbeitsweise hat uns gezeigt, dass ihm die Vorzüge seiner Arbeitsweise bewusst waren und er sie gezielt einsetzte. Er verwendete die explorative Zeichnung im vollen Umfang ihrer Möglichkeiten: Als selbstreflexives Medium, um zu lernen, und um Ideen weiterzuentwickeln. Es wurden einzelne Mechanismen identifiziert, die das Gedächtnis zur Analogie- und Metaphernbildung anregen.

Schnelligkeit hält den Strom der Phantasie aufrecht und erfordert eine Fragmentierung der Zeichnungsinhalte. Die Verwendung jedes verfügbaren Materials (auch von schon Gebrauchtem) regt darüber hinaus zu Ideen an. Überzeichnungen reichern Vorstellungen an. Abwandeln von Zeichnungsinhalten, das ledigliche Variieren von Teilbereichen und Negieren abgeschlossener Formen, unterstützt während dem Zeichnen den Assoziationsbildungsprozess.

Michelangelos architektonische Skizzenblätter sind deswegen interessant, weil er als Architekt mit reiner Form-Erfindung befasst ist. Michelangelo schlägt somit eine Brücke zwischen Leonardo da Vincis Methode, die er adaptiert hat und dem zeitgenössischen explorativen Zeichnen als transformatorisches Medium. Michelangelos Studienblätter stellen genau die Art explorativen Zeichnens dar die bis heute, beinahe 500 Jahre später, immer noch eingesetzt wird.



[1]Vgl. Westfehling, 1993, S. 23

[2]Westfehling, 1993, S. 24

[3]Paaz, 1954, S 15f, zitiert in Westfehling, 1993, S. 29

[4]Vgl. Panofsky, 1990. S. 207

[5]Vgl. Panofsky, 1990, S. 25-29, Petrarcas Überzeugung geht auf die Formel „ut pictura poesis“ (wie mit der Malerei ist´s mit der Dichtung), von Horaz zurück.

[6]Vgl. Panofsky, 1990, S 45

[7]Westfehling, 1993, S. 9

[8]ebenda, 1993, S. 38

[9]Westfehling, 1993, S. 76

[10]Es ist heute teilweise umstritten ob diese Akademie bestanden hat, oder ob es sich eher um einen informellen Kreis seiner Schüler handelte, die er „Akademiker“ nannte ohne institutionellen Rahmen.

[11]Vgl. Hocke, 1987, S. 53

[12]Vgl. Panofsky, 1990, S. 190

[13]Hocke, 1987, S 57

[14]griechisch, heuriskein = finden; heureka = ich habe es gefunden; Heuristik = Lehre vom (Er)finden, Kunst der Ideenfindung

[15]griechisch, poiein = machen

[16]Vgl. Hocke, 1987, S 61

[17]Vgl. Panofsky, 1990, S. 189

[18]Vgl. Westfehling, 1993, S. 77

[19]Hocke, 1987, S. 66

[20]Siehe dazu auch Kapitel 3.4

[21]Hocke, 1987, ebenda

[22]Hocke, 1987, S. 67

[23]Vgl. Westfehling, 1993, S. 33

[24]Marinoni, 1980, S. 87

[25]Marinoni, 1980, S. 77

[26]Gombrich, 1996, S. 211

[27]Siehe dazu auch Zuccari´s: „Linie als sichtbare Substanz der inneren Zeichnung“.

[28]Gombrich, 1996, S. 211

[29]Vgl. Gombrich, 1996, S. 213

[30]Vgl. ebenda, 1996, S. 215

[31]Leonardo da Vinci, Trattato di pittura, 66, zitiert in Frank Zöllner, 2007(A), S. 259

[32]Vgl. Gombrich, 1996, S. 216

[33]Vgl. ebenda, 1996, S. 217

[34]„Auffallend ist der formale Entwicklungsprozess bestimmter Motive, die in der letzten Version symbolische Signifikanz haben. [...] Im Suchen nach einer neuen Lösung, entwickelte Leonardo neue Bedeutungen in den Formen, die er in seinen vorhandenen Skizzen sah.“(Gombrich, 1996, S. 217, eigene Übersetzung).

 

[35]Vgl. Siegert in Gethmann, Hauser 2009,  S. 24

[36]Leonardo da Vinci, ebenda

[37]Siegert in Gethmann, Hauser 2009,  S. 25

[38]Es ist zumindest eine Studie Leonardos, nach Michelangelos David bekannt (Royal Library RL12591r). Im Gegensatz Zu Leonardo war Michelangelo bemüht seine zeichnerische Hinterlassenschaft stark zu dezimieren. Vgl. Zöllner 2007(B), S. 398

[39]Vgl. Summers 1981, S. 85

[40]Gian Lorenzo Bernini (*1598 – ✝1680), Bildhauer und Architekt, Hochaltarziborium im Petersdom, Petersplatz mit Kollonaden, Vierströmebrunnen, Piazza Navona.

[41]Vgl. Zöllner, 2007(B), S. 648

[42]Der Begriff stammt aus dem Italienischen und bedeutet „unvollendet“.

[43]Vgl. Summers 1981, S. 149, eigene Übersetzung

scroll back to top