Zeichnen ist eine allgemeinmenschliche Fähigkeit. Sie begründet sich in der Notwendigkeit, die gegenständliche Umwelt kennen zu lernen und ihre Merkmale anderen mitzuteilen. Visuelle Umweltmerkmale, die für unser Leben wichtig sind, werden dadurch instinktiv, auf Basis individueller Erfahrung oder epochal, im Kulturkollektiv bewertet. Das bewegt Menschen schon in frühester Kindheit zur Auseinandersetzung mit Zeichenwerkzeugen.

4.1 Einleitung

Die Tatsache, dass menschliche Wesen nur Objekte kategorisieren können, die sie schon visuell erfasst haben und wovon sie eine allgemeine Repräsentation gebildet haben, rückt die Erkenntnisse der Neurobiologie nahe an die platonische Sichtweise.

Über passive Betrachtung hinaus ist die Wahrnehmung von komplexen cerebralen Reaktionen geprägt, die Neues entstehen lassen. Wir bilden aus visuellen Reizeingängen instanziierte Begriffe, wir bilden das „Bezeichnende“ des visuellen Gegenstandes, wir bilden eine Kategorie, durch Auswahl vor dem Hintergrund unserer Erfahrung. Diese, entwicklungsgeschichtlich alte, Fähigkeit gewährleistet sicheres und rasches Wiedererkennen, der Gemeinsamkeiten von Formen, in weiter Unabhängigkeit von deren variablen Merkmalen. Entwicklungsgeschichtlich jünger hingegen ist die menschliche Fähigkeit des bildlichen Ausdrucks.[1]

4.2 Symbole, Bilder und Sprache

Es lohnt sich, bildliches Gestalten hier und Sprache da in einer Art funktioneller Nachbarschaft zu betrachten gemeinsam mit der Fähigkeit zu schreiben, zu lesen und zu reden oder Gesprochenes zu verstehen.[2]

Wörter sind „Zeichen“ für natürliche Tatsachen. Durch Abstraktion werden natürliche Tatsachen zu Symbolen geistiger Tatsachen. Abstraktionen als die Methode des Vergleichens und neue Zurüstung des menschlichen „Hirnverfahrens“, greifen auf diesen Anschauungsvorrat zurück. Äußere Phänomene liefern uns also einen Zugang zu einer Sprache um innere Vorgänge des Erkennens von Funktionen und Bedeutungen zu generieren. Dies bildet das Grundmuster für ein unermüdliches Ordnen, Abstrahieren und Sequenzieren.

„So wie wir anfänglich die Worte als Symbole für Dinge bilden, so werden die Dinge schließlich zu Symbolen für unsere Regelkonstrukte. [...] Analogien durchdringen alles, und es ist unsere Begabung zur Kategoriebildung, zu Planung und Strategie, die uns nach inhaltlichen Beziehungen und regelhaften Verbindungen suchen lässt. Wir vermehren und verstärken Entsprechungen zwischen den sichtbaren Dingen und unseren Gedanken, solange wir leben.“ [3]

Die Bildung von und der Umgang mit Symbolen stellt eine Methode zur Umbildung und Übersetzung, einer äußeren Erscheinung in einen inneren Typus, ein stellvertretendes Zeichen, dar.

„Eben weil viele Hirnteile beim Zeichnen und Malen angeregt und planvoll mit anderen gemeinsam „ins Spiel“ gebracht werden, ist das bildnerische Gestalten Motor vieler Funktionsallianzen, einer cerebralen „Teamarbeit“ gleichsam, wo jedes seinen Platz hat, aber auch „Umbesetzungen“ in gewissem Rahmen der Kompensationskapazität des Gehirns stattfinden können, solange nur Wachheit, Aufmerksamkeit, Konzentration und ein erfinderisches und gleichsam „situatives Improvisieren“ erhalten geblieben sind.“ [4]

4.3 Sehen, begreifen, bezeichnen

Die Nahebeziehung von Hand- und sprachspezialisierter Gedächtnisfunktion erklärt sich aus ihrer entwicklungsgeschichtlich gleichzeitigen Entstehung. Manuelle Handlungen werden auch häufig als Einprägungshilfe von sprachlichem Kommentar begleitet.

„Viele unserer Fähigkeiten werden von der Reifung der motorischen, visuellen und oberflächensensiblen Funktion bestimmt. So auch das Zeichnen und Malen. Unser Gehirn aktiviert zunächst die Sinnesrezeptoren in Auge oder Hand aktiv mit Richtung auf ein Ziel und gewährleistet während des Explorationsprozesses eine exakte fortlaufende Steuerungskontrolle der Zielerfassung. Das Bild, welches das Gehirn dabei entwirft, basiert also auf Nachrichten von Rezeptoren in Netzhaut und Haut, beziehungsweise den sensorischen Rückmeldungen von Augen- und Gliederbewegungen aus Längen- und Dehnungsmessfühlern in Muskulatur, Sehnen und Gelenken unter Einbezug unserer situativen Erwartung im Licht unserer Erfahrung.“ [5]

Das Sehen übernimmt also auch die Funktion der Kontrolle über die eigene Handnavigation im Raum. Dieses Ortungs- und Orientierungssystem heißt „dorsales Sehsystem“ oder „Where-Pathway“, es ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt.

Das „ventrale Sehsystem“ oder „What-Pathway“ ist eine entwicklungsgeschichtlich junge Anpassung des menschlichen Gehirns, die hauptsächlich die Bewegungsmöglichkeiten der Hand steuert, die sogenannte „ulnare Opposition“ (das Aufeinanderzubewegen von Daumen und Zeigefinger).[6]

„Das ventrale Sehsystem hat Überlappungen mit dem sprachlichen Verarbeitungssystem. Es ist ein Informationskanal für Manipulation, Identifikation und symbolhafte Engrammierung von Objekten, also eine Schnittstelle zwischen Sehen, Begreifen und Bezeichnen.“ [7]

4.4 Was hat Kants Schema mit Neurobiologie zu tun?

Zwischen explorativen Zeichnungen und Kants Schemata fallen zwei phänomenale Parallelen auf. Erstens hat Kant in seiner Suche nach „der Entdeckung der schöpferischen Freiheit des Geistes“, also der „entwerfenden Vernunft“, selbst Beweis führend, entwerfend geforscht. Zweitens hat er mit seinen Schemata im 18-ten Jahrhundert ein Regelwerk geschaffen, das erst Mitte des 20-sten Jahrhunderts als richtig bewiesen werden konnte. Beides zusammen liefert Zeugnis über die Produktivität entwerfender Vernunft.[8]

Ein Schema ist das allgemeine Verfahren der Einbildungskraft einem Begriff sein Bild zu verschaffen. Beispiel: Ich sehe ein zweibeiniges Etwas. Ich erkenne dies ist ein Mensch. Ich weiß ein Mensch ist ein Säugetier, ein Lebewesen, usw.

Schemata sind also (möglicherweise mehrstufige) strukturierende Allgemeinbegriffe, die nicht aus der empirischen Anschauung gewonnen werden können, sondern dem Verstand entstammen, sich aber auf die Wahrnehmung beziehen.

„Dieser ist ein „diskursiver Verstand“, der auf zwei heterogene Elemente angewiesen ist: Ohne Bilder können wir nicht denken, und ohne Begriffe können wir nicht erkennen. „Begriffe ohne sinnliche Anschauung sind leer; sinnliche Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Dieser Dualismus innerhalb der zentralen Bedingungen von Erkenntnis liegt Kant zufolge unserer Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zugrunde.“ [9]

Die relevante Leistung der Schemata im Zusammenhang mit explorativem Zeichnen ist: Sie sichern nicht nur, dass eine Anwendung von Kategorien auf Anschauungen möglich ist, sondern dienen gleichzeitig als Kriterium dafür, auf welche Anschauung welche Kategorie welcher Begriff rechtmäßig angewandt werden kann. Es entstehen also Anwendungsbedingungen durch die Charakterisierung der Schemata. Das Urteil ist bei Kant die Verbindung von empirischen Anschauungen der Sinnlichkeit mit den Vorstellungen des Verstandes. Urteilen heißt deshalb auch, die gegebene Vorstellung eines Gegenstandes, die Anschauung, zur Grundlage einer neuen Vorstellung werden zu lassen, demnach wird das Urteil eine Vorstellung der Vorstellung.

„Der in jedem Urteil enthaltene Begriff enthält unter sich Unterbegriffe, aber vor allem  Anschauungen. Ein Begriff fällt unter einen andern, solange Diskursivität gegeben ist.“ [10]

Ich will hier den Versuch eines Vergleiches wagen:

Das Schema (gleichbedeutend in der Neurobiologie) ist das übergeordnete Organisationsprinzip für mentale Repräsentationen, das kantische Urteil ist die Verbindung des Gesehenen mit den Vorstellungen des Verstandes, also das Repräsentationssystem selbst. Ein neues eingangsseitiges visuelles Bild passt zu einer mentalen Repräsentation und wird in der Verknüpfung mit dieser, eine neue Repräsentation mit Bezügen zu Beidem.

Die Dualität von Bildern und Begriffen, wie sie Kant dargestellt hat, ist evident. E. Cassirer führt weiter aus: „Statt vom Menschen zu sagen, er besitze einen »der Bilder bedürftigen Verstand«, sollten wir eher sagen, sein Verstand bedürfe der Symbole.“[11] Die Symbole tragen Bedeutung, sie besitzen aber keine aktuale Existenz als Teil der physischen Welt. Dennoch sind es symbolische Bedeutungen, die menschliche Erkenntnis ermöglichen. Im Prozess des explorativen Zeichnens ist das Symbol der Katalysator zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen. Unser Verstand bildet Analogien zum Wirklichen und gleichzeitig weitere assoziative Ketten, die aus dieser eruieren. Diesen imaginären Möglichkeitsräumen verdankt die explorative Zeichnung ihre Fähigkeit zum Erkenntnisgewinn.

4.5 Erwartung

Wie schon bemerkt, bilden wir Kategorien und „Ideale“. Was zur Folge hat, dass jede Wahrnehmung verstärkt konzeptgesteuert wird. Das bedeutet ein visuelles Erlebnis ist immer ein „Mittelwert aus visueller Erwartung und den tatsächlich wahrgenommenen Reizen. Wir beginnen Verbindungen herzustellen, zwischen dem schon Bekannten und solchen Wahrnehmungen, die sich dazu in Beziehung setzen lassen. Dadurch bilden wir assoziative Inhalte aus Wahrnehmungen, weil wir mit „Erwartungen und vorgefassten Wertungen sehen“.

Abbildung 7: Aquarell-Skizze, Studie Öffnungen

4.6 Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis

Aufmerksamkeit ist die „ökonomische“ Zuweisung kognitiver Ressourcen zu relevanten Reizen der äußeren oder inneren Welt. Ihre Notwendigkeit erklärt sich aus der begrenzten Kapazität des Gehirns zur „bewussten“ Verarbeitung von Informationen. Aufmerksamkeit besteht aus ineinandergreifenden Unterfunktionen. Besonders bedeutend für die Gestaltauffassung und somit für Zeichnen und Malen ist die Orientierungsreaktion. Sie bedeutet Zuwendung an einen äußeren Reiz, der nicht primär im Fokus unserer Aufmerksamkeit liegt, nichtunserer Erwartung entspricht, aber von Bedeutung sein könnte. Die Orientierungsreaktion wird geleitet von Instinkt und individueller Erfahrung.[12]

Um mit diesen Erfahrungen arbeiten zu können, müssen Daten vom Arbeitsgedächtnis aufgenommen werden. Das Arbeitsgedächtnis stellt ein Bindeglied zwischen Aufmerksamkeit und Gedächtnis im engeren Sinn dar. Es ist erforderlich, um Informationen im Kontext mit Erkenntnisvorgängen aufrecht zu halten und zu manipulieren. Dadurch kann die Aufmerksamkeit variierend auf einzelne Inhalte bezogen werden. Es entstehen daraus flexible Verhaltensweisen wie Lernen, Planen, Verstehen, Begründen, Zeichnen und andere „intelligente“ Verhaltensweisen.

4.7 Emotionen und Identitäten

Emotionen gewichten Lebens- und Weltbetrachtung positiv oder negativ und sichern deren Einprägung als episodische, im Zeitraster fixierte Inhalte. Weiters ermöglichen sie rasches Zuordnen auf direktem emotionalen Weg und bilden eine weitere Ökonomisierung cerebraler Ressourcen. Erfahrene Zeichner berichten über positive emotionale Stimmungen, von denen der Zeichenablauf manchmal begleitet ist. Hier dürfte es sich um Rückwirkungen dieser episodischen Engrammierungen handeln.

„Optische Informationen basieren auf Unterschieden in Helligkeit und Farbe, Form und Struktur, auf Gestalt- und Positionsveränderungen in Raum und Zeit. Dabei erfolgt mit dem Dateneingang aus der Welt immer auch eine Datenauswahl durch gestufte Ordnungsprozesse, gegründet auf aktive Selektion. Die Daten werden zu objektbezogenen, invarianten Merkmalen reduziert, und so entsteht Objektidentität. Hierfür sind Aufmerksamkeitsmechanismen und emotionale Wirkungen, das individuelle aber auch das epochale Gedächtnis, also die Gesamterfahrung eines Kulturkollektivs erforderlich.“ [13]

4.8 Zeit und Episode

Zeitempfinden wird erst möglich durch das Konstruktionsmerkmal der sogenannten „rekurrenten“ Verbindung in unserem Nervensystem. Diese Verbindungen führen Eingangsinformationen, die wir durch unsere Sinneskanäle erhalten haben, über Rücklaufschleifen in die nächstfolgenden Datensätze von Sinneswahrnehmungen ein, verknüpfen also Vorinformationen mit aktuellen Informationen.

Während wir gestalten, verbinden wir vorhandene Erfahrungen mit neuen Sinneseindrücken zu einer neuen mentalen Repräsentation und bilden so eine Vorstellung unserer Realität ab. Das Phänomen der rekurrenten Verbindungen zwingt den explorativen Zeichner zu schnellem Handeln.

Wir sehen aus unserem Erfahrungshintergrund und wir ergänzen Unschlüssiges aus unserem Erinnerungsspeicher, um die wahrscheinlichste Bedeutung zu ermitteln.

„Das sichere Empfinden eines Zeitgefüges von Inhalten ist unverzichtbare Voraussetzung für die „deutliche“ Auffassung von szenischen Abläufen, also von Episoden. Und was liegt szenischen Abläufen zugrunde? Sinneswahrnehmungen über mehrere Sinnes-Kanäle (sehen, hören, spüren, schmecken, riechen und das Gefühl unserer Lagebeziehungen zum Raum), die zueinander in einem „Vorher-Nachher-Verhältnis“ stehen.“ [14]

Die Regelhaftigkeit von Form- und Aktionsbeziehungen in unserer Umwelt schafft einen Erfahrungshintergrund in unserer Langzeiterinnerung, vor dem jede neue visuelle Wahrnehmung wie vor einer inneren Referenz oder Kalibrierungsgröße erscheint.

4.9 Fazit

Durch Zeichnen lernen Kinder Bezüge zwischen ihrer Umwelt und sich selbst herzustellen. Natürliche Tatsachen werden durch Abstraktion zu Symbolen geistiger Tatsachen, zu Zeichen. Die Abstraktion als Methode der verallgemeinerten Begriffsbestimmung, bildet das Grundmuster für ein unermüdliches Ordnen und Sequenzieren.

Es besteht eine, neurobiologisch nachgewiesene, Nahebeziehung zwischen hand- und sprachspezialisierter Gedächtnisfunktion, die sich unter anderem durch die Verwendung von gestischen Einprägungshilfen zeigt.

Kants Schemata sind sowohl instanziierende, als auch kategorisierende Abstraktionsmuster. Aus diesen leiten wir „Ideale“ ab. Dadurch sehen wir mit vorgefassten Erwartungen. Dieser Umstand führt beim explorativen Zeichnen zur Möglichkeit der Bestimmung von verwandten Formen.

Kognitive Prozesse erfordern Aufmerksamkeit und emotionale Zuordnung. Sie dienen der Ökonomisierung cerebraler Ressourcen.

Während des explorativen Zeichnens verbinden Entwerfer Erfahrung mit Neuem und bilden eine Vorstellung möglicher Realität ab. Sie ergänzen aber auch Unschlüssiges aus ihrem Erinnerungsspeicher, um die wahrscheinlichste Bedeutung zu ermitteln. Das erklärt den Erfolg von Reduktion, scheinbar chaotischen „Kritzeleien“ und multimodaler Arbeitsweise, im Prozess des explorativen Zeichnens.



[1]Vgl. Schmidbauer, 2004

[2]Schmidbauer, 2004, S. 5

[3]ebenda 2004, S. 7

[4]ebenda, 2004, S. 15

[5]ebenda, 2004, S. 38

[6]Vgl. Schmidbauer, 2004, S. 39

[7]Schmidbauer, 2004, S. 40

[8]Vgl. Glockner, 1980, S. 617f

[9]Cassirer, 2007, S. 93

[10]Glockner, 1980, S. 651ff

[11]Cassirer, 2007, S. 93

[12]Schmidbauer, 2004, S. 70

[13]ebenda, 2004, S. 71

[14]ebenda, 2004, S. 115

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